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Christa Dönch, geb. Fischer
Christa Dönch, geb. Fischer
brachte das Glas nach Oberursel



































































Glasrezepte und Vertreibung


oder

Wie kam das Qualitätsglas nach Oberursel?



Das "Graue Tuch"
Das "Graue Tuch"



Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden etwa drei Millionen Sudetendeutsche auf Grund der Benesch-Dekrete und des Schlusskommuniqués der Potsdamer Konferenz von 1945 zwangsweise nach Deutschland umgesiedelt. "Odsun" die tschechische Wortneuschöpfung (eine Mischung zwischen Abschiebung und Überführung) verwischt die Realität eher, als dass sie diese benennt. Die Ausweisung, das bedeutete außer der damit verbundenen Demütigung von heute auf morgen den Verlust der Heimat und all dessen, was das Familien- und Arbeitsleben ausgemacht hatte: Für viele hieß das Abschied von den Eltern und Freunden - auf Zeit, für immer? - und eine ungewisse Zukunft.

Während bei den wilden Vertreibungen und Plünderungen des Jahres 1945 die Menschen oft innerhalb von Stunden über die Grenze getrieben wurden, erfolgte die Prozedur ab 1946 systematischer (Internierungslager), wenn auch nicht menschlicher.1,4

Die Führungskräfte und Facharbeiter der Gablonzer Glasindustrie wurden zum Teil noch ein paar Monate festgehalten, um den (häufig aus der Slowakei) neu eingesetzten Werksleitern und Aufsehern (správce) das für die beabsichtigte Fortführung der Glasindustrie erforderliche Fachwissen zu vermitteln. Für die Familien der im oberen Kamnitztal um Josefsthal und Unter-Maxdorf (Kreis Gablonz) tätigen Glasfachleute hieß dies Barackenlager in Albrechtsdorf, maximal 30 kg Gepäck und scharfe Kontrollen, damit nicht etwa Werkzeuge, Formen oder auch Zeichnungen und Rezepte für Glasmischungen, Kunststoffe oder Galvanik mitgenommen wurden. Auf "Industrieverschleppung" stand die Todesstrafe. 1,2,4

Weil die Deportationen oft kurzfristig stattfanden und dann nur äußerst wenig Zeit zur Vorbereitung blieb, musste rechtzeitig überlegt werden, was für das Überleben und einen Neubeginn mitzunehmen war. Sämtliche Wertsachen mussten ebenfalls zurückgelassen werden. Was blieb waren die über die letzten Jahrhunderte gehüteten Geheimnisse der Glasherstellung. Wie also sollte man das Buch der in Josefsthal und Unter-Maxdorf angewandten Glasrezepte in die neue und ungewisse Heimat retten, ohne dabei erwischt zu werden? Also kam die Familie von Otto Fischer aus Unter-Maxdorf auf die Idee, die wichtigsten Rezepturen auf ein Leinentuch zu übertragen, etwas größer als ein DinA4-Blatt. Verschlüsselt wurden nur die Angaben über die den verschiedenen Gläsern beigemischten Farben. Das gelang mit einer Kodierung der Zahlen in einer bestimmten Buchstabenfolge, die nur Otto Fischer und seiner Tochter Christa bekannt waren. Die so gewonnene Schrift wurde mit der Schreibmaschine auf das Tuch übertragen, anschließend zusammengefaltet und ein Exemplar in die Mütze, ein weiteres im Korsett versteckt. Die beiden Tücher haben die Kontrollen im Lager vor der Abreise ohne entdeckt zu werden überstanden. Das graue Tuch befindet sich noch heute im Besitz der Famile Fischer-Dönch.1,3

Odsun hieß auch tagelanger Transport in Viehwagons - und dann wurde man irgendwo abgesetzt. Jeder Zug - so hatte es die Prager Regierung mit den Alliierten vereinbart - ging in eine andere Region Deutschlands. Die absichtliche Dispersion und Zerstreuung der Gablonzer in möglichst viele, weit voneinander entfernte Orte war das Ziel.

"Wenn man ein Land verlässt, um anderswo Glück zu suchen, selbst wenn man aus dem Lande oft unter Lebensgefahr flieht, um ins Exil zu gehen, ist man, so zynisch das klingen mag, in gewisser  Weise noch Akteur, also aktiver Teil des Geschehens. Anders die Erfahrung der vollständigen Entmündigung: einfach abgeschafft, be-handelt zu werden, ohne selbst handeln zu können, muss für Menschen, die von ihrer Kreativität, Eigenständigkeit und Autonomie so überzeugt und so lange Zeit überzeugt waren (und durch den Erfolg bestätigt), besonders demütigend, ja traumatisierend sein."  Cornelie Ueding4

Die aus den Glaswäldern Böhmens Vertriebenen strandeten in einer unvertrauten und dennoch irgendwie bekannten neuen "Heimat", die im Gegensatz zu der, die man gerade gezwungenermaßen verlassen musste, zudem nahezu völlig zerstört, ausgeblutet und am Boden war. Eine Situation, um zu verzweifeln oder einfach aufzugeben.

Um so mehr ein Wunder, nicht primär ein Wirtschafts-, sondern ein (Re-)Organisationswunder, dass nach und nach, aber sicher nicht zufällig, so viele der voneinander Separierten wieder zueinander fanden und wenn irgend möglich versuchten, die alten Vernetzungen und Verbindungen wiederherzustellen, weiterzuarbeiten, weiterzuleben, indem man die vertrauten, eingespielten Muster auf vollständig neue Realitäten flexibel zu übertragen und ihnen anzupassen versuchte.4


Arbeitsgemeinschaft der Gablonzer Industrie in Oberursel
Arbeitsgemeinschaft Oberursel der Gablonzer Industrie um ca. 1962
Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft der Gablonzer Industrie in Oberursel um 1962 v.l.n.r.:
Günther Pochmann, Kamill Schander, Franz Schander, Franz Burkert, ?, ?, Walter Ullmann, Otto Kausch, ?, Herbert Schander, Josef Mitlehner, Rudolf Endler, Rudolf Seibt, Willi Zenkner, Kurt Simm

(Quelle: Erika Rapp)


Neugründungen von sog. Vertriebenengemeinden entstanden; die bekannteste hieß "Neu-Gablonz", die zu einem Zentrum der Gablonzer Bijouterie werden sollte. Andere begannen, die Gablonzer Industrie an bereits existierenden Schmuckstandorten zu etablieren wie in Schwäbisch Gmünd.

Die Familie Fischer, zunächst in Warnemünde gestrandet, traf in Oberursel auf langjährige Weggefährten aus Josefsthal und Unter-Maxdorf, und gründete gemeinsam mit neun weiteren Gesellschaftern eine Glashütte in Stierstadt, die für die Taunus-Region zu dieser Zeit einen völlig neuen Industriezweig bedeutete und als Wertschätzung an die neue Heimat den Namen "Hessenglas" erhielt.

Die Anfänge waren mehr als bescheiden, die Zukunftsaussichten alles andere als rosig: wer würde 1947 auf die Idee kommen, wertvoll veredeltes Bleikristall oder Glasschmuck zu kaufen? Doch das Wunder geschieht. Und dann tauchen wie aus dem Nichts wieder Menschen auf. Nicht nur die Menschen (manche von ihnen), die man aus Gablonz und Haida kannte und mit denen man tagtäglich zusammengearbeitet hatte, sondern auch die alten Kunden.



Glashütte "Hessenglas" in Oberursel-Stierstadt
Die Glashütte in Oberursel-Stierstadt (1947-1990)
Foto: Jürgen Weigend um 1983







Quellen und Literatur(empfehlungen):

1 Auskünfte und Niederschriften Frau Christa Dönch, geb. Fischer, Oberursel

2 Auskünfte und Niederschriften Frau Erika Rapp, geb. Burkert, Waldsolms

3 Samulowitz, Dr. Hansjoachim: Das "graue Tuch", Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Heimatkunde Oberursel (Taunus) e.V., Heft 48, 2010, ISSN 0342-2879
(erhältlich im lokalen Buchhandel)

4 Ueding, Cornelie (Hrsg.): Karfunkelschein. Prade -Gablonzer Modesschmuck 1922-1995, Modo-Verlag GmbH Freiburg i. Br. 2009, ISBN 978-3-86833-019-9

5 Zenkner, Karl: Die alten Glashütten des Isergebirges, Leutelt Gesellschaft Schwäbisch Gmünd 1968




Der Weg des Böhmischen Glases

in den Taunus






Zenkner Hütte vor 1910
Die holzbefeuerte Zenknerhütte in Josefsthal wurde zur
Anlegung einer Dauersiedlung mitten im unerschlossenen
Urwald zwischen 1687 und 1730 begründet. Sie war bis
1910 in Betrieb und wurde an gleicher Stelle durch eine
moderne Glasfabrik, die Kamnitzhütte ersetzt.5



Glashütte in Josefsthal mit Blick auf den Hujerwinkel und das Jagdschloss
Die Kamnitzhütte von Carl Riedel in Josefsthal mit Blick auf den
sog. "Hujer-Winkel" und das Jagdschloss des Grafen Des Fours.
Die Glashütte wurde 1911 in Betrieb genommen, und war speziell für
die Erzeugung des von den Flacons- und Kristallglasschleifereien
benötigten Rohglases eingerichtet worden.1,5


Carlshütte von Carl Riedel in Unter-Maxdorf, 1945 abgerissen
Die Carlshütte (Carl Riedel) in Unter-Maxdorf
wurde 1945 abgerissen



Glashütte in Josefsthal um 1930
Die Kamnitzhütte in Josefsthal um 1930



Marienhütte in Unter-Maxdorf in den 30er Jahren
Die Marienhütte in Unter-Maxdorf in den 30er-Jahren
- benannt nach der Frau von Carl Riedel -
war spezialisiert auf die Stangenglasproduktion
für die Gablonzer Bijouterie-Industrie

Stand: 21. Juli 2010, OR